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Interview: Kinder von Rückkehrenden

Grafik eines Mikrofons

„Jedes Kind ist einzigartig“

Welche Chancen haben die Kinder von „IS“-Rückkehrenden für eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft? Wie können sie verarbeiten, was sie erlebt haben? Darüber berichtet Susanne Wittmann von „Grenzgänger ProKids“. Das Projekt betreut die Kinder von Rückkehrenden.

Susanne Wittmann ist Diplom-Sozialpädagogin und leitet seit 2012 das „Beratungsnetzwerk Grenzgänger“ bei IFAK e. V. in Bochum. Seit Anfang 2023 nimmt das Projekt „Grenzgänger ProKids“ deutschlandweit die Kinder von „IS“-Rückkehrenden in den Fokus. ProKids arbeitet mit Zustimmung der Sorgeberechtigten mit den Kindern sowie Fachkräften aus Kindergarten und Schule. Bislang haben die Mitarbeitenden von ProKids rund 30 bis 40 Kinder von „IS“-Rückkehrenden betreut.


Einige der „IS“-Rückkehrenden haben Kinder. Speziell über sie wird viel berichtet. Wie alt sind diese Kinder, die in den letzten Jahren aus den Gebieten des sogenannten „Islamischen Staats“ zurückgekehrt sind?

Die meisten Kinder, mit denen wir zu tun haben, waren bei ihrer Ankunft in Deutschland zwischen einem Jahr und zwölf Jahren alt. Vereinzelt waren auch ältere Kinder dabei.


In welchem psychischen Zustand befinden sich die Kinder bei ihrer Rückkehr? Sind sie alle traumatisiert?

Alle Kinder haben traumatische Ereignisse erlebt. Die meisten Kinder werden einem Psycho- oder Traumazentrum in Deutschland vorgestellt. Eine Traumafolgestörung – wie die posttraumatische Belastungsstörung – kann jedoch nicht immer diagnostiziert werden. Kinder haben große Anpassungskompetenzen und es kann sein, dass ein Kind zunächst äußerlich unauffällig ist. Möglicherweise zeigt sich erst später eine Belastungsstörung. Manche Kinder nässen dann wieder in ihr Bett oder haben Angstzustände, Konzentrationsschwierigkeiten oder Wutanfälle. Es kann sich im Erwachsenenalter eine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickeln.


Das Auswärtige Amt hat einige Kinder gemeinsam mit ihren Müttern aus Lagern in Syrien nach Deutschland zurückgeholt. Wie läuft diese Rückholung der Kinder ab?

Seit 2019 werden von der „Beratungsstelle Radikalisierung“ des Bundeamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Stellen der sogenannten Rückkehrkoordinierenden in den Bundesländern gefördert, die am meisten von islamistisch motivierten Ausreisen in Richtung des „IS“ betroffen sind. Die Rückkehrkoordinierenden der beteiligten Bundesländer treffen im Vorfeld der Rückführungen, die durch das Auswärtige Amt durchgeführt werden, entsprechende Vorbereitungen und koordinieren die anschließenden Maßnahmen der zuständigen Landesbehörden. Im Idealfall wird vorab geklärt, was mit den Kindern bei ihrer Ankunft passiert – ob sie vom Jugendamt in Obhut genommen werden, in eine Pflegefamilie kommen oder bei Verwandten aufgenommen werden. In den meisten Fällen kommen die Kinder zu Verwandten. Am Flughafen sind dann Mitarbeitende des zuständigen Jugendamts anwesend. Die Rückkehrkoordinierenden haben eine wichtige Schnittstellenfunktion. Sie stimmen nicht nur die Maßnahmen mit den beteiligten Behörden ab, sie sind auch für ProKids ein wichtiger Ansprechpartner.


Liegen gegen alle Mütter ein Haftbefehl vor?

Ob ein Haftbefehl vorliegt, erfahren Jugendamt und Angehörige erst bei der Ankunft am Flughafen. Mir ist zwar kein Fall bekannt, bei dem es keinen Haftbefehl gab – aber ich möchte das auch nicht ausschließen. Wenn die Mutter mit den Kindern am Flughafen ankommt und dann verhaftet wird, ist es für die Kinder häufig ein Schock. Das ist mit großem Schmerz verbunden und es fließen viele Tränen.


Verlieren Eltern, die wegen Straftaten im Kontext des „IS“ inhaftiert sind, automatisch das Sorgerecht für ihre Kinder?

Nein. Über das Sorgerecht entscheidet das Familiengericht. In den meisten Fällen behalten die Eltern das Sorgerecht und es wird ein Teilsorgerecht auf die Verwandten oder die Pflegefamilie übertragen. Aber es kann auch sein, dass den Eltern das Sorgerecht komplett entzogen wird – wenn davon auszugehen ist, dass das Wohl der Kinder durch ihre Eltern weiterhin gefährdet wird.


Wie gehen die betreuenden Familien damit um, wenn die Familien der Kinder in Haft sind?

Häufig sagen die Familien, die Mutter und/oder der Vater seien im Urlaub oder krank. Die Kinder spüren aber, dass das irgendwie nicht stimmt. Wir versuchen den Angehörigen zu vermitteln, dass das Thema nicht tabuisiert werden sollte. Je nach Alter des Kindes kann man dafür passende Worte finden. Dabei helfen verschiedene Materialien, wie zum Beispiel Bilderbücher – auch wenn die für das Thema Islamismus oft nicht so richtig passen. Deswegen überlegen wir, im nächsten Jahr ein eigenes Bilderbuch für Kindergarten- und Grundschulkinder zu entwickeln.

Die Kinder fragen manchmal: Warum ist Mama/Papa überhaupt im Gefängnis? Warum darf sie/er nicht bei uns sein? Die Kinder waren ja im Kampfgebiet dabei. Je nach Alter haben sie viel mitgekriegt und das war für sie Normalität. In ihren Augen haben die Eltern nichts Böses getan. Und plötzlich ist alles, was sie und die Eltern gemacht haben, nicht mehr in Ordnung und das ganze Weltbild der Kinder wird zerstört.

Das zu verarbeiten ist ein langer Prozess, der viele Jahre dauert. Wir begleiten die Kinder so lange bis eine Festigung und eine Heilung vollzogen wurden.


Können die Kinder Kontakt zu ihren Eltern haben, wenn diese inhaftiert sind?

Im Fokus steht bei dieser Frage immer das Kindeswohl. Es wird eingeschätzt, ob der Kontakt zu den Eltern in Haft förderlich für die Kinder und ihre Entwicklung ist. Wenn man das bejahen kann, versuchen wir bei Grenzgänger ProKids mit den Familien und den Kindern einen Gefängnisbesuch vorzubereiten. Wir überlegen: Was muss das Kind wissen? Was braucht es, um zu verstehen, wo die Mutter oder der Vater sind?

Der Gefängnisbesuch ist in den meisten Fällen eine große Irritation für die Kinder – denn bis zum ersten Besuch vergehen oft einige Monate. Die Kinder haben sich womöglich bei den Verwandten oder in der Pflegefamilie eingelebt und ein bisschen Stabilität erlangt. Mit dem Gefängnisbesuch fängt es manchmal wieder an, dass sie schlecht schlafen oder unruhig werden. Das müssen die Kinder erstmal verarbeiten. Das unterstützen wir durch pädagogische Angebote wie Malen oder Rollenspiele.

Während der Zeit mit den Corona-Richtlinien kam es zu zusätzlichen Erschwernissen des Besuches, weil beispielsweise Impfungen nicht vorlagen oder ein Besuch nur mit Trennscheibe erlaubt war. Kleine Kinder verstehen ja nicht, warum sie nicht zu der Mutter auf den Schoß dürfen. Dann kam es vor, dass ein Kind über einen sehr langen Zeitraum die Mutter nicht besuchen konnte.


Wie ist das Team von ProKids zusammengesetzt?

Wir sind ein Team von fünf Personen. Unter anderem arbeiten in unserem Team zwei Kinderschutzfachkräfte. Sie haben eine Weiterbildung zur „Insoweit erfahrenen Fachkraft“ (InsoFa) gemacht und können das Risiko von Kindeswohlgefährdung einschätzen. Außerdem sind zwei Psychologen im Team, – darunter eine Traumatherapeutin – die sich die psychologischen Aspekte anschauen und mit denen wir Auffälligkeiten besprechen können. Wenn es notwendig ist, dann vermitteln wir auch an niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – was aber mit einer Wartezeit verbunden ist. Die Wartezeit überbrücken wir mit unseren unterstützenden und stabilisierenden Angeboten.


Wie ist die Bereitschaft der Familien, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen?

Die Verwandten oder Pflegeeltern schämen sich häufig für das, was da geschehen ist, und fühlen sich hilflos. Sie müssen manchmal zunächst die Bereitschaft entwickeln, unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dafür ist es notwendig, dass unser Projekt Zuspruch erhält von den Fachkräften der Jugendämter und Beratungsstellen, die bereits einen Zugang zu den Familien haben. Die Familien arbeiten freiwillig mit uns, ohne Zwang. Sie sollen unser Angebot nicht als zusätzliche Belastung sehen, sondern als Bereicherung empfinden. Wir gehen sehr behutsam vor und sehr wertschätzend. Wichtig ist, eine Vertrauensbeziehung zu entwickeln, damit die Familien die Kinder ein Stück „loslassen“ können. Wenn die Familien sich auf uns einlassen, können wir erfolgreiche Begleitung leisten.


Wie ermitteln Sie, welche Angebote ein Kind benötigt?

In Hilfeplangesprächen mit dem Jugendamt, bei denen auch die Sorgeberechtigten anwesend sind, schauen wir gemeinsam, wo das Kind steht, welche Auffälligkeiten es hat und welche Bedürfnisse – aber auch welche Ressourcen, Kompetenzen, Vorlieben und Talente. Jedes Kind ist einzigartig. Es gibt keine Checklisten, die wir durchgehen und keine Standard-Angebote. Wir betrachten jedes Kind individuell und entwickeln dann Angebote, die seinem Aufwachsen und seiner Entwicklung dienen. Wenn ein Kind zum Beispiel gerne tanzt, begreifen wir das als Ressource für seinen Ausdruck. Es ist wichtig, dass das Kind den Anforderungen in Deutschland standhalten und auch mit Gleichaltrigen gemeinsam lachen und Spaß haben kann.


Gibt es – ähnlich wie bei Erwachsenen – Tools, mit denen das Risiko eingeschätzt wird, das von den Kindern ausgeht?

Nein, ein klassisches Risk Assessment ist bei Kindern nicht angezeigt und auch nicht zielführend. Aber wir schätzen natürlich ein, welches Potenzial für Eigen- und Fremdgefährdung besteht. Das ist ein Standard in der Kinder- und Jugendarbeit. In diesem Zusammenhang kann es auch vorkommen, dass etwas auffällt, das im Zusammenhang mit den Erfahrungen in Syrien, mit der Ideologie und mit der Erziehung steht.


Kann man Aussagen darüber treffen, was – neben den engen Bezugspersonen – besonders entscheidend ist für die Wiedereingliederung der Kinder und für ihren Heilungsprozess?

Das ganze System muss betrachtet werden. Bei Kleinkindern ist die Frage, ob die Erzieherinnen und Erzieher oder die Kindergartenleitung von dem Aufenthalt in Syrien wissen. Wissen sie es nicht, kann es irritierend für sie sein, wenn ein Kind ständig Hinrichtungen nachspielt. Das Rollenspiel ist für Kinder enorm wichtig für die Verarbeitung. Und wenn dieser Verarbeitungsprozess durch Verbote unterdrückt wird, ist es hinderlich für die Entwicklung. Daher ist es wichtig, auch die Erzieherinnen und Erzieher und Lehrkräfte in der Schule mitzunehmen. Die Grundschule erfährt es sowieso von den Behörden, wenn ein Kind eingeschult wird. Bei den Kindergärten sollten es die Sorgeberechtigten mitteilen, wenn es dort möglicherweise zu Irritationen kommen könnte. Man muss jedoch sehr darauf aufpassen, dass die Kinder keine Stigmatisierung erfahren.

Wenn Kinder älter werden, ist die Freizeitgestaltung wichtig sowie der Anschluss an die Peergroup. Die Gefahr der Stigmatisierung ist leider sehr groß. Wenn Eltern erfahren, dass ihr Sohn oder ihre Tochter mit einem Kind spielt, das vom „IS“ zurückgekehrt ist, entstehen häufig große Ängste. Eventuell verbieten die Eltern mit diesem Kind zu spielen. Deswegen sollten die Bezugspersonen mit dem Kind besprechen, in welchen Situationen es über seine Erfahrungen sprechen kann und in welchen Situationen eher nicht. Ein Kind muss nicht jedem von seinen Erfahrungen erzählen – um sich zu schützen. Aber in der Familie oder mit vertrauten Personen darf es natürlich besprochen werden.


Wie sehen die Chancen für eine normale Kindheit oder Jugend in Deutschland aus?

Ich würde sagen, dass die Chancen sehr gut sind. Wenn das Helfersystem gut zusammenarbeitet, dann können die Kinder reintegriert werden, sie können eine gesunde Entwicklung und Heilung erfahren und Stabilität finden.

Es ist aber ein langer Weg. Mit manchen Kindern arbeiten wir schon seit sechs Jahren zusammen und haben noch nicht den Eindruck, dass wir uns verabschieden können – auch weil jetzt die Pubertät ansteht. Das ist ja eine Zeit, in der man sich fragt: Welche Identität habe ich? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Welchen Glauben habe ich? Es stehen so viele Fragen in der Pubertät an, die eine Begleitung erfordern.


Wenn die Eltern ihre Haftstrafe abgebüßt haben, werden sie dann wieder mit ihren Kindern zusammengeführt?

Ja, in den meisten Fällen ist das so. Das bereiten wir auch gemeinsam mit den anderen involvierten Akteurinnen und Akteuren vor. Das Problem ist, dass man von der Entlassung manchmal erst am gleichen Tag erfährt. Den Zeitraum kann man zwar ungefähr abschätzen und das mit den Kindern vorbereiten. Aber der Tag an sich, der ist nicht richtig planbar. Da muss man dann sehr flexibel sein. Es muss ja so vieles für das zukünftige Zusammenleben geklärt werden, zum Beispiel die Wohnsituation und der Lebensunterhalt. Es müssen neue Regeln für das Zusammenleben aufgestellt werden.

Vorab überlegen wir: Was passiert, wenn die Mutter oder der Vater „raus darf“? Wie kommen sie nach Hause? Wie gestalten wir den Empfang? Gibt es ein gemeinsames Essen? Ein Kaffeetrinken oder eine kleine Wiedersehensfeier? Das Wiedersehen ist dann oft sehr emotional.