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Interview mit Zarifa Ghafari

Grafik eines Mikrofons

"Es war ein jahrelanger Kampf ums Überleben"

Zarifa Ghafari, die von der BBC unter die 100 einflussreichsten und inspirierendsten Frauen von 2019 gewählt und im Jahr 2020 mit dem International Women of Courage Award ausgezeichnet wurde, berichtet in diesem Interview über ihren Werdegang, die Hindernisse, die sie auf diesem Weg überwinden musste und wie die Taliban ihr Heimatland Afghanistan verändern.

Zarifa Ghafari, geboren 1992 in Kabul, Afghanistan, ist eine afghanische Politikerin und Frauenrechtlerin. Im Jahr 2018 wurde sie zur Bürgermeisterin von Maidan Shahr in der Provinz Wardak ernannt. Damit war sie die jüngste weibliche Bürgermeisterin Afghanistans. Die Ernennung in ein öffentlich politisches Amt hat sie zur Zielscheibe der Taliban gemacht. Trotz vieler Verluste, die sie durch die Taliban wegen ihres Einsatzes für Afghanistan und für afghanische Frauen erleiden musste, setzt sie sich in NRW in der Diaspora weiter für Frauenrechte ein. Über ihre Hürden und Errungenschaften im Kampf für Frauenrechte berichtet sie in ihrer Biographie „Zarifa – Afghanistan meine Heimat, meine Geschichte“ und in der Netflix Dokumentation „In her Hands“. Zurzeit schreibt sie an ihrem zweiten Buch, in welchem sie sich mit den Geschichten verschiedener afghanischer Frauen befasst.

*Das Interview wurde im Mai 2023 von Hila Rahman auf Englisch geführt und anschließend übersetzt.


Im Jahr 2018 wurden Sie Bürgermeisterin von Maidan Shahr Wardak in Afghanistan. Mit 26 Jahren waren Sie damals die jüngste Bürgermeisterin in Afghanistan.  Welche Hindernisse mussten Sie auf dem Weg zur Bürgermeisterin überwinden?

Es gab tatsächlich so einige Hindernisse, die ich auf dem Weg zur Bürgermeisterin von Maidan Shahr Wardak überwinden musste. Einige dieser Hindernisse stellten sich mir bereits in jungen Jahren in den Weg, andere wiederum blieben bis zum letzten Tag meiner Amtszeit.
Schon als junges Mädchen durfte ich mich nicht in einen Raum voller Männer setzen. Ich durfte nicht frei reden, mich nicht frei draußen bewegen oder zu Männern sprechen. Generell durfte ich meine Meinung, meine Ideen und mich selber als Frau und Mensch nicht präsentieren. Ich durfte mich nicht so äußern, wie es für mich und andere Frauen in der afghanischen Gesellschaft notwendig gewesen wäre. Im Grunde genommen war das größte Hindernis für mich, dass ich eine Frau bin.

Es war ein jahrelanger Kampf ums Überleben, welcher sich letztendlich auszahlte. Mit 26 Jahren leitete ich schließlich als Bürgermeisterin ein Amt voller Männer. Ich habe in dieser Zeit viele Männer, die zunächst gegen mich waren, von mir und meiner Arbeit überzeugen können. Trotzdem habe ich während meiner Amtszeit ständig Drohungen von den Taliban und anderen Verbrechern erhalten. Mir war bewusst, dass einige aus meinem Amt Informationen über mich an die Taliban weiterleiteten. Ich wurde regelmäßig von den Taliban und anderen misogynen Männern dazu aufgefordert, mein Amt aufzugeben. Sie drohten nicht nur, mir mein Leben zu nehmen, sondern auch das meiner Familienangehörigen und meines damaligen Verlobten. Mein Ehemann und ich haben zahlreiche Attentate knapp überlebt. Meinen Vater ermordeten die Taliban mit einem gezielten Attentat. Es fühlte sich so an, als hätten sie mein Rückgrat gebrochen. Nach seiner Ermordung habe ich aus Angst um die Sicherheit meiner Familie mein Amt als Bürgermeisterin niedergelegt, um in Kabul im Verteidigungsministerium zu arbeiten.  


Und welche Ermutigungen haben Sie auf Ihrem Weg zur Bürgermeisterin erhalten?

Mein Weg zum Amt der Bürgermeisterin war ein ständiger Kampf. Ein Kampf gegen veraltete gesellschaftliche Normen und gegen die Menschen, die mir und anderen Frauen diese aufzwingen wollten. Richtig ermutigt wurde ich eigentlich erst, als ich bereits im Amt war. Männer, die keinen Hehl daraus machten, dass sie mich als Frau in diesem Amt nicht akzeptierten, fingen an, mich und meine Arbeit ernst zu nehmen. Sie respektierten mich und es trat ein Wandel ihrer Mentalität ein. Es waren Männer, die bereit gewesen wären, mich allein aufgrund meines Geschlechts zu töten, weil ich ein öffentliches Amt bekleidete und in der Öffentlichkeit lebte. Diese Männer fingen dann an, mich und meine Arbeit zu unterstützen. Das ist meine größte Errungenschaft.


Wie waren die Reaktionen, als Sie als Bürgermeisterin von Maidan Wardak in die öffentliche Politik eintraten? Gab es Unterschiede in den Reaktionen von Männern und Frauen? Und was haben Sie in dieser Zeit gefühlt und erlebt?

Die Reaktionen der Männer und Frauen auf meine Ernennung zur Bürgermeisterin waren definitiv sehr verschieden. Die Frauen waren erfreut. Egal, wo ich hinging, ob dienstlich oder in meiner Freizeit, sie waren so herzlich zu mir. Sie nahmen sich Zeit, unterhielten sich mit mir, vertrauten mir ihre Sorgen an, lachten mit mir. Die meisten Männer hingegen misstrauten mir von Anfang an. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich regelrecht hassten. Aber letztendlich brachte ich viele von ihnen dazu, mich ebenfalls zu lieben, da ich bewiesen habe, dass auch eine Frau diesen Job ausführen kann.


Durch den Vormarsch der Taliban und schließlich deren Machtübernahme mussten Sie Ihre Arbeit vor Ort beenden und sogar aus Afghanistan fliehen. Wie hat sich das auf Sie ausgewirkt?

Ich bin nicht vor den Taliban geflohen. Ich bin aus Angst um meine Familie mit ihnen zusammen gegangen, da ich mich für sie verantwortlich fühle. Dies zum einen in meiner Rolle als älteste Tochter und zum anderen, da sie durch meine Tätigkeiten zur Zielscheibe für die Taliban geworden sind. Wenn ich mich an die Momente erinnere, als wir Afghanistan verließen, kommen mir immer wieder die Tränen. Ich fühlte mich ohnmächtig und empfand es als feige, dass ich meine Heimat und meine Leute verließ. Es ist immer noch hart. 

Ich gehöre zu diesem Land, dort bin ich aufgewachsen. Ich bin mental und emotional so stark mit Afghanistan und seinen Menschen verwoben. Ich fühle mich für beide verantwortlich. Nicht nur, weil ich Bürgermeisterin gewesen bin, sondern auch weil ich für Frauenrechte in Afghanistan gekämpft habe. Mein Aufenthalt hier in Deutschland soll daher auch nur temporär sein. Ich möchte, sobald es geht, nach Afghanistan zurückkehren und mit anderen Afghaninnen und Afghanen Afghanistan neu gestalten.


Seit die Taliban an der Macht sind, haben sie die Rechte der Frauen stark eingeschränkt. So müssen sich Frauen beispielsweise wieder verschleiern, Mädchen dürfen keine weiterführenden Schulen besuchen und das Frauenministerium, das früher in Kabul angesiedelt war, wurde abgeschafft. Welche Einschränkungen sind Ihrer Meinung nach für die Frauen im Land derzeit am gravierendsten?

Es ist schwer zu sagen, welche der Einschränkungen und Verbote am gravierendsten sind, da all diese Verbote moralisch falsch sind. Die Verbote ergeben keinen Sinn. Sie zielen nicht nur darauf ab, die Frau als soziale und treibende Kraft in der Gesellschaft abzuschaffen, sondern sie entehren Frauen mit ihren misogynen Richtlinien und Verboten.

Ich sehe Bildung als wichtigstes Instrument für jeden Menschen an, sich selbst zu helfen, wertvolle Beiträge für die Gesellschaft zu leisten und diese wiederaufzubauen. In einer patriarchalischen und frauenfeindlichen Gesellschaft wie in Afghanistan ist dementsprechend Bildung für Frauen besonders wichtig. Durch Bildung lernt man seine Rechte und die Bedeutung des eigenen Individuums kennen. Zugang zu Bildung ist ein islamisches Recht, hier gibt es keine Ausnahmen – dies müssen Frauen in Afghanistan wissen und für sich einfordern.

Einen anderen Punkt, den ich als sehr gravierend empfinde, bezieht sich nicht direkt auf ein Verbot. Viele Familien in Afghanistan leiden unter zunehmender Hungersnot. Auf Grund der Einschränkungen und Verbote sind Frauen davon am stärksten betroffen. Millionen von Frauen sind verwitwet und haben somit kein männliches Familienoberhaupt und keinen Versorger. Sie müssten diese Rolle für sich und ihre Familien einnehmen, können es aber nicht, da sie zum Beispiel nicht ohne männlichen Begleiter rausgehen oder arbeiten dürfen. Es gibt Frauen, die aus dieser Not ihre eigenen Kinder verkaufen, um wiederrum die ihnen noch bleibenden Kinder versorgen zu können. Viele begehen Selbstmord, da sie keinen Ausweg aus dieser Misere sehen.


Was sind Ihrer Meinung nach die Motive der Taliban für die Auferlegung dieser Beschränkungen für Frauen?

Hierfür gibt es einige Motive. Zum einen nutzen sie Frauen als Mittel zum Zweck in der internationalen politischen Gemeinschaft. Zum Beispiel fordern sie Hilfsgelder als Bedingung dafür, die Schulen für Mädchen wieder zu eröffnen. Oder sie fordern, dass ihre Regierung international anerkannt wird, um im Gegenzug Frauen arbeiten zu lassen.

Zum anderen sind sich die Taliban bewusst, dass sie die Art und Weise, wie sie regieren, nicht fortführen könnten, wenn Frauen uneingeschränkten Zugang zu Bildungsressourcen und zum Arbeitsmarkt hätten. Auf vielen verschiedenen Ebenen hätten sie dann mehr Einfluss.


Wenn man Frauen von so vielen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens ausschließt, welche Folgen hat das für die Gesellschaft als Ganzes?

Stellen Sie sich vor fünfzig Prozent der Bevölkerung besteht nur aus Konsumentinnen, welche nicht an der Produktion beteiligt sind. Die treibende Kraft in Afghanistan wird so halbiert. Zieht man Kinder und ältere Männer ab, sind es weniger als die Hälfte, die das wirtschaftliche, innovative, politische, kulturelle und soziale Leben tragen. Da fällt Unmengen an Potenzial weg. Allein wenn man auf die Mikroebene schaut und das Beispiel einer Familie mit Vater, Mutter, vier Töchtern und zwei Söhnen nimmt: Wie soll der Vater alleine acht Menschen ernähren können? Das wird sehr schwierig und die Ernährung ist ja lediglich ein Grundbedürfnis. Es kommen ja noch mehr Ausgaben hinzu. Die beiden Söhne werden auch im Kindesalter schon arbeiten müssen, um das Haushaltseinkommen zu erhöhen. Kinder sollten aber nicht arbeiten müssen. Dieser Teufelskreis aus Armut und Abhängigkeit wird sich immer weiterdrehen, wenn die Einschränkungen und Verbote für Frauen nicht aufgehoben werden.  


Die Menschenrechtsverletzungen, die von den Taliban an der afghanischen Bevölkerung begangen werden, scheinen so weit weg von uns, die wir in Deutschland in NRW leben. Warum geht uns das trotzdem etwas an?

Weil es um Menschlichkeit geht. Ich sehe unsere Welt als ein gemeinsames Zuhause für verschiedene Ethnien, Identitäten und Religionen an. Wenn es einem Teil nicht gut geht, wie können die anderen davon nicht betroffen sein?

Die Taliban sind wie ein Virus. Sie sind Terroristen, die zu allem fähig sind.

Egal an welchem Ort der Welt sie sind, sie würden jede Möglichkeit ergreifen, die Menschheit und ihre universellen Menschenrechte zu verletzen. Es betrifft also uns alle.


Was können wir tun, um den afghanischen Frauen zu helfen? Welche Art von Unterstützung erhoffen Sie sich von Deutschland?

Der Fokus sollte auf Bildung für Frauen und Mädchen gelegt werden. Wir müssen Ideen entwickeln, wie wir die Frauen und Mädchen in Afghanistan unterstützen können.

Ich bin auch dafür, sich von dem Projektgedanken zu lösen, da Projekte immer zeitlich begrenzt und dadurch meistens leider nicht nachhaltig sind. Zudem sollte direkt in die Frauen in Afghanistan investiert werden. Es gibt dort sehr fähige und mutige Frauen. Ein einfaches Beispiel wäre die Errichtung von Fabriken, in denen Frauen die eigenen afghanischen agrarwirtschaftlichen Erzeugnisse selbst verarbeiten können. Es geht nicht nur darum, ihnen was zum Lesen zu geben, sondern auch um die Möglichkeit, Geld verdienen zu können. In meiner Provinz haben wir so leckeres ökologisch angebautes Obst. Man könnte daraus Fruchtaufstriche, wie Marmelade herstellen. Ich denke, solche Ansätze zu verfolgen, wäre sehr hilfreich.