1994-2001: Aufstieg und erste Herrschaft über Afghanistan
1994 macht sich in Afghanistan eine fundamental-islamistische Gruppe erstmals bemerkbar: die Taliban.
In nur zwei Jahren gelang es den zunächst wenigen Dschihadisten, mehrere zehntausend Menschen in Afghanistan hinter sich und fast das gesamte Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Wer sind die Taliban und wie haben sie sich entwickelt? Wie sieht ihr Islamverständnis aus? Warum fiel es ihnen so leicht, fast das gesamte Land einzunehmen?
Wo kommen die Taliban her?
„Talib“ ist ein arabisches Wort. Übersetzt heißt es „Schüler“ oder „nach Wissen Suchender“. Es wird im Alltag muslimischer Gemeinschaften in vielen unterschiedlichen Kontexten genutzt, zum Beispiel als gängiger Vor- oder Nachname.
Die Taliban in Afghanistan haben sich ihren Namen selbst gegeben. Sie verweisen damit auf ihre Wurzeln in den Koranschulen, auch Medresen genannt, in Pakistan und Süd-Afghanistan.
Diese Herkunft der Taliban ist eng verknüpft mit der jahrzehntelangen Kriegsgeschichte des Landes. Seit dem Militärputsch gegen die Monarchie unter Mohammed Zahir Schah 1973, vor allem aber im Krieg gegen die sowjetischen Besatzungstruppen zwischen 1979 und 1989, waren Millionen Menschen aus Afghanistan geflohen – der größte Teil nach Pakistan.
Pakistan erkannte in den Geflüchteten eine Möglichkeit, den eigenen Einfluss in Afghanistan auszuweiten. Daher unterstützte es die Gründung zahlreicher kleiner Koranschulen, die afghanische Geflüchtete und Waisenkinder aufnahmen. Die Koranschüler stammten meist aus den unteren sozialen Schichten und waren oftmals Waisenkinder. So übernahmen die Medresen die Funktion von Ersatzfamilien.
Viele von ihnen orientierten sich an der im indischen Ort Deoband gelegenen islamischen Rechtsschule Darul Uloom Deoband. Die religiöse Auslegung dieser Deobandi-Bewegung folgt einer dogmatischen und puritanischen Auslegung des Koran und der Sunna des Propheten (insgesamt: Scharia) als einziger Quelle von Recht. Als eine der vier großen sunnitischen Rechtsschulen propagiert sie die Rückkehr zu einer hanafitischen Lehre. Die strenge Auslegung der religiösen Texte lässt wenig Raum für Flexibilität.
Diese Deobandi-Auslegung der pakistanischen Medresen stellt eine wichtige Ressource für die Islamauslegung der Taliban dar. Allerdings blieb den meisten Koranschülern und auch vielen ihrer Lehrer mangels Lese- und Schreibkenntnissen der eigene Zugang zur islamischen Schrift verwehrt. Die Glaubenspraxis der Taliban vermischt sich daher auch stark mit Elementen eines Volksglaubens und weicht teilweise erheblich von der Deobandi-Auslegung ab.
Darüber hinaus wirkte sich die soziale und familiäre Entwurzelung als Folge der afghanischen Kriege aus: In den pakistanischen Medresen schlossen sich vor allem männliche Kriegswaisen zu quasi-familiären Gemeinschaften zusammen, die völlig ohne weiblichen Einfluss blieben. Auch die lange Gewöhnung an Krieg und Gewalt waren wesentlich für die Weltanschauung der Taliban.
Wie haben die Taliban Afghanistan erobert?
1994 machten sich die Taliban erstmals in der Region von Kandahar an der Grenze zu Pakistan als Gruppe bemerkbar. Diese Gegend ist vor allem von Paschtunen besiedelt. Sie gründeten die Bewegung mit dem Ziel, Kandahar zu befreien und die Einheit Afghanistans wiederherzustellen. Viele internationale Beobachter und auch die Menschen in Afghanistan glauben, dass der pakistanische Geheimdienst ISI die Taliban von Beginn an mit Waffen und Geld unterstützt haben. Pakistan selbst streitet das ab.
Afghanistan ist ein Land mit sehr vielen ethnischen Gruppen und einer vielfältigen und oft gemäßigten islamischen Praxis. Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind Paschtunen, die überwiegend der sunnitischen Glaubensrichtung angehören. Eine weitere Gruppe, die Hazara, sind schiitische Muslime. Auch der Sufismus ist in Afghanistan weit verbreitet. Der schnelle Siegeszug der Taliban nach 1994 ist also nicht mit einem bestimmten religiösen Verständnis der afghanischen Bevölkerung zu begründen.
Die Taliban schienen großen Teilen der afghanischen Bevölkerung zu Beginn ihrer Herrschaft als Möglichkeit, das durch viele Kriege zermürbte Land zu befrieden. Nach der Befreiung von der sowjetischen Besatzung im Jahr 1989 hatten Mudschahedin-Krieger und lokale Stammesfürsten die Regionen untereinander aufgeteilt und kämpften erbittert um die Vorherrschaft in der Hauptstadt Kabul.
Der pakistanische Journalist Ahmed Rashid beschreibt in seinem Buch über die Taliban, wie die Kriegsherren „verwirrende Bündnisse schlossen, wieder lösten, Blut vergossen, die Seiten wechselten und kämpften.“ Auch die Gotteskrieger der Mudschahedin erwiesen sich als korrupt und plünderten die Bevölkerung aus. Große Teile der afghanischen Bevölkerung wandten sich daher von ihrer religiösen Führung ab. Der Vorstoß der Taliban schien vor allem ein Ende der regellosen Gewalt zu versprechen und den Terror der lokalen bewaffneten Kriegsfürsten gegen die Zivilbevölkerung zu beenden. Daher schlossen sich hier schnell mehrere tausend Menschen an.
Kandahar fiel daher ohne größere Kämpfe an die Taliban, welche im Anschluss die Bevölkerung entwaffneten und die Transportwege wieder öffneten. Am Ende hatten die Taliban nicht nur ihre Anhängerschaft erheblich vergrößert, sondern sich für ihren weiteren Vormarsch auch Zugriff auf Waffen und Kriegsgerät gesichert.
Auf diese Weise eroberten die Taliban nach und nach fast das gesamte Land: Sie stellten sich als Friedens- und Einigungsbewegung im Namen des Islam dar, als einen Gegenentwurf zur Einflussnahme des Westens, wobei ihr genaues Glaubensverständnis offenblieb. Größere Kämpfe gab es um die Hauptstadt Kabul, die 1996 an die Taliban fiel. Nur den äußersten Nordosten Afghanistans konnten die Taliban nicht gegen die so genannte Nordallianz, eine lose Vereinigung eigentlich rivalisierender bewaffneter Gruppen, erobern.
Nach der Machtübernahme setzten die Taliban mit Gewalt ihr dogmatisches Islamverständnis durch. International löste das Vorgehen der Taliban Proteste aus. Formal als Regierung anerkannt waren die Taliban lediglich durch Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Unter der Herrschaft der Taliban entwickelte sich Afghanistan zum Hot Spot für unterschiedliche islamistische Terrorgruppen, darunter Al Quaida von Osama bin Laden. Als sich die Taliban nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 weigerten, bin Laden an die USA auszuliefern, griffen diese im Oktober 2001 Afghanistan an. Vier Wochen später gaben die Taliban Kabul auf und zogen sich in das schwer zugängliche Hochgebiet Afghanistans oder nach Pakistan zurück. So endete die erste Herrschaft der Taliban in Afghanistan.
Woran glauben die Taliban?
Die Taliban machten geltend, „den wahren islamischen Glauben“ zu vertreten. Bis heute halten viele Expertinnen und Experten dieses Islamverständnis jedoch für unklar, widersprüchlich und politisch instrumentalisiert. Die Taliban haben keine Schrift veröffentlicht, die einer Interpretation zugänglich wäre. Die großen theologischen Zentren in Kairo (Ägypten) und Mekka (Saudi-Arabien) lehnen den religiösen Führungsanspruch der Taliban ab.
Durch Beobachtung lassen sich jedoch folgende Grundzüge des Islamverständnisses der Taliban feststellen:
- Gründung eines islamischen Emirats unter religiöser Führung mit der Scharia als einziger Quelle der Rechtsfindung und Rechtsauslegung
- der Dschihad als religiöse Verpflichtung, den Islam zu leben und weiterzuverbreiten
- die Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Raum, um eine Ablenkung des Mannes von der religiösen Pflicht zu unterbinden.
Nach der Übernahme von Kabul im Jahr 1996 schlossen die Taliban einheitlich im ganzen Land Schulen für Mädchen und Frauen, verhängte eine Burka-Pflicht und verboten unter anderem die Heiligenverehrung, die Rasur, Tanz, Musik und bildnerische Darstellungen. Darüber hinaus jedoch unterschied sich die Praxis in den Regionen erheblich, zum Beispiel bei der Anwendung körperlicher Strafen für Verstöße gegen islamisches Recht.
Da viele Taliban gering gebildet und des Lesens nicht mächtig sind, setzt sich ihre Auslegung aus spiritueller Erfahrung, etwa in Traumdeutungen, sowie vorislamischen und traditionell begründeten Elementen zusammen. Der Umgang mit Mädchen und Frauen zum Beispiel lässt sich nach Auffassungen von Expertinnen und Experten wie Ahmed Rashid oder Conrad Schetter eher mit dem paschtunischen Stammeskodex Paschtunwali begründen als mit islamischen Schriften.
Einen Anspruch auf einen globalen Dschihad haben die Taliban nie formuliert. Sie konzentrierten sich stets auf die Einheit Afghanistans. Allerdings boten sie unterschiedlichen terroristischen Gruppen Unterschlupf an, die auch international agiert haben.
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