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Interview: „IS“-Rückkehrerinnen

Grafik eines Mikrofons

Unterschätzte „IS“-Frauen?

Warum wir im Umgang mit Rückkehrenden Rollenklischees überwinden müssen und warum gendersensible Ausstiegsarbeit und Risikobewertung wichtig sind, erklärt die Expertin Sofia Koller.

Sofia Koller ist Senior Research Analyst bei der Organisation Counter Extremism Project (CEP). Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört der Umgang mit ausländischen „IS“-Mitgliedern und insbesondere die Rolle der Frauen.


Welche Rolle haben Frauen im sogenannten Islamischen Staat in Syrien und im Irak gespielt?

Ich unterscheide zwischen verschiedenen Rollen. Eine Rolle war die der Ehefrau und Mutter. Frauen, die zum IS gekommen sind, waren entweder schon verheiratet oder wurden schnellstmöglich verheiratet. Und sie sollten Kinder bekommen, um dann die nächste Generation von „IS“-Anhängerinnen und -anhängern großzuziehen.

Eine zweite Rolle betrifft die Unterstützung der Organisation, zum Beispiel durch Propaganda in sozialen Medien. Dabei geht es beispielsweise um Spendenaufrufe. Im Moment ist es ein Thema, „Schwestern“ aus den Lagern in Syrien zu befreien. Frauen rekrutieren auch andere Frauen.

Der dritte Komplex spielt seltener eine Rolle. Aber als der „IS“ stabiler wurde und mehr Gebiete erobert hatte, waren Frauen auch in administrativen Rollen tätig – als Krankenschwestern oder Ärztinnen.

Der vierte Komplex umfasst alles, was mit Gewalt zu tun hat. Es gab Frauen, die an der Waffe ausgebildet wurden. Viele konnten zum Beispiel mit einer Kalaschnikow und einige auch mit einem Sprengstoffgürtel umgehen. Es gibt auch Beispiele von deutschen Frauen, die in der Religionspolizei aktiv waren. Ihre Aufgabe war es, das Verhalten anderer Frauen auf der Straße zu kontrollieren oder Informationen zu sammeln.


In welcher Form waren Frauen an den Taten des „IS“ beteiligt?

Alle oben genannten Rollen stärken den „IS“ als Organisation. So jedenfalls argumentiert der Generalbundesanwalt in Deutschland. Frauen erziehen zum Beispiel die nächste Generation. Sie haben also dazu beigetragen, dass der „IS“ ein staatsähnliches Gebilde war.

Frauen waren in vielen Fällen auch an Verbrechen gegen die Jesidinnen und Jesiden beteiligt. Viele deutsche Familien hatten eine oder auch mehrere versklavte Jesidinnen in ihren Häusern. Es war dann oft die Aufgabe der Frau, der Jesidin zu sagen: „Kümmere dich um den Haushalt. Kümmere dich um meine Kinder. Koch das Essen.“ Es waren oft auch die Frauen, die dafür gesorgt haben, dass die Jesidinnen nicht fliehen konnten, die sie beaufsichtigt haben. In einigen Fällen ging es so weit, dass Frauen die Vergewaltigung der Jesidinnen unterstützten. Das sind die Fälle, die in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen haben, weil deutlich wurde: Die „IS“-Frauen waren nicht nur zu Hause und haben Kinder bekommen, sondern haben aktiv mitgewirkt und die menschenverachtende Ideologie des IS unterstützt – darunter den Genozid an den Jesidinnen und Jesiden.


Bislang hat der deutsche Staat rund 30 Frauen und 80 Kinder aus den „IS“-Gefangenenlagern in Syrien zurückgeholt – Männer hingegen nicht. Warum ist der deutsche Staat bereit, Frauen und Kinder zurückzuholen, aber nicht Männer?

Es gibt dabei eine rechtliche und eine politische Dimension. Rechtlich stellt sich die Frage: Welche Verpflichtungen haben die Herkunftsstaaten gegenüber ihren Staatsbürgerinnen und -bürgern? Und es stellt sich die politische Frage: Welche politischen Auswirkungen hat es, wenn die deutsche Regierung Personen zurückholt, die sich freiwillig dem „IS“ angeschlossen haben und die dann möglicherweise hier einen Anschlag begehen? Wie gehen wir damit um? Da es wenig Erfahrungswerte gibt und das Thema sowohl emotional als auch sicherheitspolitisch schwierig ist, tun sich die meisten Länder sehr schwer, eine Antwort zu finden.

Rechtlich ist es weiterhin umstritten, ob ein Staat in einer solchen Situation wirklich die Verantwortung hat, seine Bürgerinnen und Bürger zurückzuholen – so mein Eindruck.

Aber in Deutschland haben mehrere Familien von Minderjährigen geklagt, die sich in den Lagern befanden. Dazu gab es Gerichtsurteile. Demnach hat die Bundesregierung eine Verpflichtung, die Kinder aus dieser Situation herauszuholen. Gleichzeitig gibt es Regeln, die besagen, dass Kinder nicht von den Hauptbezugspersonen getrennt werden dürfen. Das hat dazu geführt, dass es mehrere Rückführungen von deutschen Kindern mit ihren Müttern gegeben hat.

Es hat auch eine Rolle gespielt, dass das Auswärtige Amt aus humanitären Gründen zu dem Schluss gekommen war, dass dies in Bezug auf diese Kinder das richtige Vorgehen ist.


Wie bewerten Sie dieses Vorgehen?

In einigen Ländern herrscht immer noch das Narrativ: „Okay, die Kinder holen wir zurück. Die können nichts dafür. Die Mütter sind nicht so gefährlich. Aber die Männer, das sind die Kämpfer, die wollen wir nicht zurück.“ Das kann man auf den ersten Blick verstehen.

Aus meiner Sicht ist das mittel- und langfristig aber nicht das richtige Vorgehen. Gegen die Männer, die noch in den Gefangenenlagern sind, gibt es keine geregelten Strafverfahren. Es gibt keine Anklage. Sie haben keinen Zugang zu Rechtsbeistand. Sie sind auf unbestimmte Zeit in dieser Situation gefangen, weil überhaupt nicht klar ist, wie das enden soll. Mehrere internationale Konventionen werden durch diese Situation mit Füßen getreten.

Und: Die Situation in Nordost-Syrien ist sehr instabil. Es gibt immer wieder Ausbrüche. Der „IS“ hat klar gesagt, dass es sein Ziel ist, die Gefangenen zu befreien und ein neues Kalifat zu errichten.


Gibt es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern in ihrem Grad der Radikalisierung? Lässt sich das pauschal beantworten?

Ein klares Nein. Sowohl der Prozess als auch der Grad der Radikalisierung sind sehr individuell. Die Mechanismen, die dabei wirken, sind jedoch bei Männern und Frauen oft ähnlich.

Es scheint allerdings so zu sein, dass Frauen und Männer aufgrund ihrer sozialisierten Rollen auf unterschiedliche Themen anspringen. Das wird in der Anwerbung genutzt. Da geht es zum Beispiel um Frauen mit Kopftuch oder mit Vollverschleierung und es wird die Frage gestellt: Wie lässt es sich in der deutschen Gesellschaft damit leben?

Auch Erfahrungen von sexualisierter Gewalt können eine Rolle spielen. Die Vorstellung, als Frau beschützt zu werden, kann eine starke Motivation sein, sich in diese Ideologie hineinzubegeben.

Spannend ist die Frage nach dem Grad der Radikalisierung. Denn erst in den letzten Jahren ist die Erkenntnis gewachsen, dass Frauen nicht nur Mitläuferinnen sind. Aus Haftanstalten wird zum Beispiel berichtet, dass Frauen, die als radikalisiert gelten, oft angepasster seien und weniger gewalttätig. Wer angepasst ist, fliegt so unter dem Radar. Männer treten oft offensiver auf in ihrer Radikalität.

Unser Verständnis von Radikalisierung basiert also auf Erfahrungen mit Männern. Ich glaube, wir brauchen ein noch tieferes Verständnis davon, welche Rolle Geschlecht und Gender spielen.


Zu den Prozessen gegen Rückkehrende: Wie viele der zurückgekehrten Frauen wurden bislang angeklagt?

Es sind über 90 Frauen zurückgekehrt. Davon wurden Stand März 2023 37 Personen angeklagt und 33 in erster Instanz verurteilt, viele davon bereits rechtskräftig. Es ist allerdings teilweise etwas schwierig nachzuvollziehen, in welchen Fällen das Urteil bereits rechtskräftig geworden ist.


Für welche Straftaten wurden die Frauen verurteilt?

Bis auf eine Person wurden alle wegen Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland verurteilt. Das ist gemäß §§ 129a und 129b des Strafgesetzbuches. Der zweitwichtigste Tatbestand ist der Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Viele hatten Zugang zu Waffen, teilweise auch Waffentraining.

Auch Kriegsverbrechen gegen das Eigentum ist ein Straftatbestand, der immer wieder erfolgreich angewandt wird. In seinen Herrschaftsgebieten hat sich der „IS“ Häuser oder Wohnungen von Gegnerinnen und Gegnern angeeignet und diese dann seinen Mitgliedern kostenlos zur Verfügung gestellt.

Auch Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht spielt eine Rolle. Das gilt für Frauen, die kleine Kinder gegen den Willen des Kindsvaters nach Syrien mitgenommen haben; sie haben durch die Ausreise in ein Kriegsgebiet auch schwere Entwicklungsstörungen in Kauf genommen. Es gibt auch den Straftatbestand der schweren Entziehung Minderjähriger mit Todesfolge. Dies greift, wenn zum Beispiel ein Kind im Kriegsgebiet durch einen Bombenangriff ums Leben gekommen ist.

Außerdem gibt es den Straftatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Meistens geht es hierbei um Verbrechen an Angehörigen der jesidischen Minderheit. Der bekannteste Fall ist der von Jennifer W., die in erster Instanz die bisher höchste Haftstrafe von zehn Jahren erhalten hatte.

Schließlich gibt es noch Kriegsverbrechen gegen Personen. Dabei handelt es sich bisher unter anderem um Verbrechen an den eigenen Kindern, wenn diese als Kindersoldaten eingesetzt wurden und dann gestorben sind.

Auch der Straftatbestand der Freiheitsberaubung tauchte in den Prozessen auf. Dies meist auch im Zusammenhang mit jesidischen Sklavinnen. Beihilfe zum Völkermord wurde letztes Jahr zum ersten Mal in einer Anklage verwendet. Das ist der neue Standard in der Anklage, wenn es um Verbrechen an Jesidinnen geht.

In Einzelfällen ging es auch um Beihilfe zum Mord oder fahrlässige Tötung.


Die meisten dieser Taten sind nun acht oder neun Jahre her. Das meiste passierte in den vom „IS“ beherrschten Gebieten in Syrien und Irak. Wie funktioniert da die Beweisführung vor deutschen Gerichten?

Die Beweise sind das Schwierigste. Es ist lange her. Leute können sich nicht mehr erinnern und haben wichtige Details nicht mehr im Kopf. Bisher wurden als Beweise zum Beispiel Chats der Angeklagten mit Familien und Freunden genommen. Auch Posts in den sozialen Medien wurden gesichert. Teilweise gibt es Dokumente des „IS“, die im Kriegsgebiet sichergestellt worden sind. Und es gibt Zeugenaussagen von Familien und Freunden oder von anderen Rückkehrerinnen, die die Angeklagten vor Ort kannten. Einer der wichtigsten Aspekte sind jedoch Zeugenaussagen von Jesidinnen. Es gab mehrere Fälle, in denen eine Jesidin als Zeugin und auch als Nebenklägerin aufgetreten ist und direkt von ihrer Erfahrung erzählen konnte.


Inwiefern haben sich die zurückgekehrten Frauen von der Ideologie des Islamischen Staates gelöst?

Das ist sehr unterschiedlich und auch schwierig einzuschätzen, weil wir nicht in ihre Köpfe schauen können. Ich höre von Personen, die direkt mit den Rückkehrerinnen arbeiten, dass sich auffallend viele distanziert und desillusioniert zeigen.

Meist sind es Frauen, die sich zum Beispiel nach der Geburt ihres ersten Kindes bewusst geworden sind: Dieses Leben möchte ich nicht mehr für mein Kind, sondern ich möchte, dass es in Sicherheit und gesund aufwächst. Auch Frauen, die Zeit in den Lagern verbracht haben, haben eine sehr, sehr schwere Zeit gehabt. In vielen Fällen hat dadurch ein Umdenken stattgefunden. Insoweit hat sich die Befürchtung von hochradikalisierten Rückkehrerinnen und ihren Kindern als „tickenden Zeitbomben“ bisher wirklich nicht bestätigt.

Aber natürlich es gibt immer noch einzelne Personen, die das alles nicht abgeschreckt hat. Oder die denken: Naja, die Idee des „IS“ wurde nicht richtig umgesetzt, aber eigentlich finde ich sie gut.


Gibt es für Frauen einen speziellen Ansatz bei der Ausstiegsarbeit?

Jein. Viele Beratende sagen, dass es keine Beratung speziell für Frauen oder Männer gibt, sondern immer eine individuelle Beratung. Auf der anderen Seite hat sich in den letzten Jahren vermehrt die Erkenntnis durchgesetzt, dass es eben doch Unterschiede dabei gibt, wie wir Männer und Frauen betrachten.

Es gibt derzeit bei vielen Akteuren vermehrt Interesse an der Frage, inwiefern in der Ausstiegsberatung und im Umgang mit Rückkehrenden Gender berücksichtigt werden muss.


Es gibt Tools zur Risikoeinschätzung wie RADAE-iTE oder VERA-2R. Ist es notwendig, dass sie an Frauen angepasst werden?

Ich habe die Empfehlung ausgesprochen, Risk-Assessment-Tools gendersensibler zu gestalten. Diese Tools kommen aus der Psychologie und Psychiatrie. Sie wurden speziell entwickelt, um Extremismus oder Radikalisierung einzuschätzen.

Sie basieren aber auf Daten von Männern. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Es geht nicht darum, die Tools an Frauen anzupassen, sondern sie gendersensibler zu machen. Denn die Rollen sind unterschiedlich und in der Vergangenheit wurden grob gesagt Frauen eher unterschätzt und Männer eher überschätzt.

Es ist in unser aller Interesse, diese Tools nochmal zu überdenken. Welche Faktoren berücksichtigen die Tools, woher kommen sie, wer entscheidet darüber? Es geht nicht nur darum, Frauen nicht zu unterschätzen, sondern auch darum, Männer nicht für ihr Mann sein zu bestrafen. Sicherheit ist wichtig, aber auch Reintegration und Distanzierung sind wichtige Ziele. Es darf nicht sein, dass jemand immer das Label Extremist und Terrorist bekommt und da nie mehr rauskommt, egal wie sehr sie oder er sich bemüht.